Manche Maedchen muessen sterben - Roman by Jessica Warman

Manche Maedchen muessen sterben - Roman by Jessica Warman

Autor:Jessica Warman
Die sprache: de
Format: mobi
Herausgeber: Limes
veröffentlicht: 2011-12-22T23:00:00+00:00


14

Den Toten bleibt der Schlaf verwehrt; zumindest gilt das für Alex und mich. Wir verbringen unsere Nächte in schweigsamer Einsamkeit, in unseren eigenen Erinnerungen verloren. Meistens reisen wir gemeinsam in die meinen, aber manchmal gehe ich auch allein, und gelegentlich entgleitet Alex in seine Vergangenheit, obgleich ich ihn kein weiteres Mal darum gebeten habe, ihn begleiten zu dürfen. Abgesehen davon bleibt uns nicht viel anderes zu tun, als darauf zu warten, dass die Sonne aufgeht, damit wir unsere lebendigen Freunde und Familienangehörigen dabei beobachten können, wie sie ihr Leben ohne uns weiterführen. Ich fürchte das Ende jedes Tages, die unausweichliche, stumme Dunkelheit, das Gefühl der Abgeschiedenheit und Verlorenheit, und ich sehne mich nach Schlaf, von dem ich weiß, dass er sich nicht einstellen wird. Zumindest nicht in nächster Zeit.

Wir haben jetzt Ende September; seit wir Zeugen meiner Konfrontation mit Beth auf dem Mädchenklo wurden, sind zwei Wochen vergangen. Es ist mitten in der Nacht, vermutlich kurz vor der Morgendämmerung. In meinem Zimmer gibt es keinen Wecker mehr, doch nachdem wir so viele Nächte hier verbracht haben, in denen ich nichts weiter tat, als zum Fenster hinauszuschauen, bin ich inzwischen ziemlich gut darin, den Himmel zu deuten und anhand des Mondstandes zu bestimmen, wie weit die Nacht bereits fortgeschritten ist.

»Da draußen ist jemand«, sagt Alex. Er steht an meinem Fenster und blickt auf die Straße hinunter.

»Und?« Ich sitze auf dem Boden, neben meinem Haufen alter Laufschuhe. Im Dunkeln wirken sie beinahe lebendig: die Laschen wie Münder, die Schnürsenkel erwartungsvollen Gesichtszügen gleich durch mehrere Augenpaare gezogen. Wir sehen einander an.

»Es ist dein Freund.« Alex drückt sein Gesicht gegen die Scheibe, als er auf die Straße hinunterspäht. Doch vor seinem Mund zeichnet sich kein Atemkreis auf dem Glas ab. »Vielleicht will er wieder auf deinem Grab schlafen.«

Ich setze mich aufrecht hin. »Glaubst du?«

Alex blickt noch einen Moment länger hinaus. »Nein«, sagt er dann. »Er will irgendwo mit seinem Wagen hin.«

Er hat recht: Sobald Alex und ich draußen sind, schauen wir zu, wie Richie rasch einen kleinen Koffer und eine Reisetasche auf seinem Rücksitz verstaut. Er will gerade einsteigen, als ein Auto unsere Straße entlangkommt und die Scheinwerfer ihn direkt anstrahlen, was ihn wie angewurzelt innehalten lässt.

»Scheiße«, murmelt er, schließt die Fahrertür und schiebt die Schlüssel in seine Tasche. Er steht neben dem Wagen und bemüht sich, ganz ungezwungen zu wirken. Fast rechne ich damit, dass er zu pfeifen anfängt.

Joe Wright ist außer Dienst, in einer weinroten Limousine mit zwei Kindersitzen auf der Rückbank. Er bleibt mit seinem Wagen stehen und lässt ihn mitten auf der Straße im Leerlauf laufen.

Richie hebt die Hände. »Ich habe nichts falsch gemacht. Ich wollte bloß mal raus, laufen gehen, das ist alles.«

»Um vier Uhr morgens?« Joe schaut sich unschuldig um. »Ziemlich dunkel dafür, oder?« Er mustert meinen Freund, der ein T-Shirt, graue Jogginghosen und dieselben Flip-Flops trägt, die er einige Wochen zuvor auf dem Friedhof anhatte; an den Sohlen klebt immer noch Erde von meinem Grab. »Du bist ein lausiger Lügner.«

»In einem Monat werde ich achtzehn. Ich kann machen, was ich will.



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